Ex-Bürgerrechtler Gauck fordert weitere Aufarbeitung der DDR-Geschichte
Joachim Gauck im Gespräch mit Bettina Klein
Der frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, hat sich für eine weitere Aufarbeitung der Vergangenheit ausgesprochen. Der Prozess der Benennung von Wahrheit und Schuld sei ein heilsamer und müsse fortgesetzt werden.
Bettina Klein: Was wird nur aus unseren Träumen? Eine Zeile aus dem berühmten Lied von Wolf Biermann und eine Frage, die sich vor dem Umbruch und auch kurz danach viele Menschen in der DDR gestellt haben. Ein Thema auch jetzt im Gespräch mit Joachim Gauck. Er war Bürgerrechtler, Pfarrer und ist uns allen bekannt als langjähriger Beauftragter für die Stasi-Unterlagen. Auch ihn begrüße ich jetzt live in Berlin. Guten Morgen, Herr Gauck.
Joachim Gauck: Schönen guten Morgen!
Klein: Was ist für Sie das entscheidende, das zentrale Gefühl heute an diesem Tag, 20 Jahre danach?
Gauck: Glück und Dankbarkeit. Ich gehöre zu dem größeren Teil der Bevölkerung, habe ich nicht immer gehört, der diese Gefühle empfindet, aber nicht nur, weil diese Mauer gefallen ist. Es ist ja so ein schönes Signal, eine Bildikone geworden, und die kennen ja nicht nur wir Deutschen, sondern wie wir jetzt erfahren alle Welt: Mauerfall. Ich denke aber immer daran, dass der Mauerfall nicht irgendwie zufällig passierte, oder weil der Herr Gorbatschow so freundlich war, sondern weil vier Wochen zuvor, am 9. Oktober in Leipzig, zig Tausende Menschen ihre Angst und ihre Ohnmacht besiegt hatten und auf der Straße sagten, wir sind das Volk. Da entsteht eine Kraft, die so stark ist und die so unerwartet uns Unterdrückte, aber auch die Regierenden bewegt, dass irgendwas geschehen musste. Da wird der Raum zu eng in einem befreiten Land und dann fallen die Mauern, und so ist es bei mir. Ich denke immer daran, wenn ich an den Herbst 1989 denke, an diesen Frühling im Herbst, wie in meiner Stadt - ich war in Rostock - zum ersten Mal die Menschen tatsächlich in Massen auf der Straße sind. Das war bei uns am 19. Oktober, was es in Leipzig am 9. war. Diese Mischung aus langjährig eingeübter Angst, dann Mut fassen, aufstehen und sich als Bürger neu definieren mit "wir sind das Volk", das ist das, was diesem 9. November vorausgeht, und das gibt ihm auch diese eigenartige Würde und Kraft. Das ist ein wunderbares Symbol, Mauern fallen, wenn Menschen sich ermächtigen.
Klein: Wenn das historische Bild nun möglicherweise über Generationen verblasst, die die DDR eben nicht mehr bewusst oder nicht im Erwachsenenalter erlebt haben, sind Sie deswegen besorgt?
Gauck: Ja. Man kann immer besorgt sein, wenn Menschen lieber dumm bleiben wollen, als sich der politischen Aufklärung hinzugeben. Nur wir werden ja nie andere Zeiten haben. Es wird immer ein Großteil von Menschen geben, die nostalgisch sind, und das war nach dem Krieg so. Ich erlebe das nun leider zum zweiten Mal, dass eine Gruppe von Menschen sagt, ach es war auch nicht alles schlecht beim Führer, und statt Führer können Sie dann das jeweilige System einsetzen. In Chile: Ach, es war auch nicht alles schlecht bei Pinochet. In Argentinien: Ach, es war auch nicht alles schlecht bei Videla. In Spanien: Ach, es war auch nicht alles schlecht bei Franco. Diese Leute gibt es, die die Vorteile der Freiheit nicht erkennen und nur die Freiheit als den Raum sehen, wo man auch verlieren kann. Das ist zu beklagen und ich bin ganz froh, dass das politische Deutschland sich diese Blickrichtung auch leistet in Richtung derer, die nicht so gut angekommen sind wie die Mehrheit.
Klein: Herr Gauck, eine entscheidende Frage, die im Augenblick mit dem weiteren Erstarken der Linkspartei aufgeworfen wird: Wie umgehen im Einzelfall mit der Vergangenheit? Matthias Platzeck, immerhin Ministerpräsident von Brandenburg, wirbt dafür, auch Menschen, die für die Stasi gearbeitet haben, mit einzubeziehen, und er wirbt interessanterweise dafür mit der Parallele, in der Bundesrepublik hatten nach dem Krieg Nazis und auch Mitglieder der Waffen-SS eine Chance. Ist das der richtige Ansatz?
Gauck: Na ja, den Matthias hat man jetzt genug abgewatscht für seine SS-Wortwahl. Aber wir müssen dazu Folgendes sagen. Erstens hatten wir keine Entkommunisierung wie nach dem Kriege, als über zwei Millionen Deutsche aus dem öffentlichen Dienst flogen. Zweitens hat auch der, sagen wir, partielle Elitentausch, also Reinigung des öffentlichen Dienstes von Stasileuten, nur etwa 50 Prozent der Stasihelfer aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Etwa im Bereich der Innenministerien der Länder, also bei der Polizei, sind rund 50 Prozent der ehemaligen IM weiterbeschäftigt. Jetzt schauen wir das an. Es sind 100 Prozent derjenigen weiter beschäftigt, die als Kommunisten in der Partei waren, und etwa 30 bis 50 Prozent ehemaliger IM. Da kann man doch nun nicht von einer besonderen Gehässigkeit gegenüber dem alten System sprechen. Und wenn Platzeck nun einen neuen Schritt machen will, dann fände ich es besser, wenn er nicht gleich das große Programm von Versöhnung aufrufen würde, sondern einfach sagt, welcher Vorteil - und das tut er ja auch - für das Land darin besteht, dass er Rot-Rot wählt. Er meint zum Beispiel, dass die CDU zu zerstritten ist und anderes, und ich finde es nicht gut, und zwar aus folgendem Grund: Versöhnung ist ganz einfach. Wenn derjenige, der etwas getan hat, die Wahrheit sagt, und aufgrund von Wahrheit werden Menschen versöhnungsbereit, sofort und unmittelbar, und wenn zu dieser Wahrheit auch noch im Grunde Schuldeingeständnis gehört und manchmal vielleicht ein bisschen Reue, dann läuft das ganz von selbst mit der inneren Einheit und der Versöhnung. Aber solange noch in Personen und in Thesen enge Verknüpfungen zur vorangegangenen Diktatur von dieser Linkspartei ausgehen, bezeichnen viele und auch ich sie als Eventualdemokraten.
Klein: Herr Gauck, was mich so erstaunt hat an dem Artikel von Matthias Platzeck, vergangene Woche ja im "Spiegel" veröffentlicht, war: meines Wissens gab es 20 Jahre in der Bundesrepublik, die er als Beispiel anführt, einen Aufstand genau gegen diese Praxis, nämlich der Einbeziehung der Nazis in die Gesellschaft, und da sind wir beim Jahr 1968. Ein solches Jahr 1968 hat es in der DDR nicht gegeben, nicht mit Blick auf die Nazi-Zeit, und man fragt sich natürlich, jetzt sind wir 20 Jahre nach dem Mauerfall, brauchen wir jetzt noch dazu eine Art "1968" mit Blick auf den Sozialismus?
Gauck: Viele von uns haben das Gefühl und Frau Klein, Sie haben ja völlig Recht. Man merkt das auch an der politischen Kultur in Deutschland, wo es ein 1968 gegeben hat und wo nicht. Man merkt es an vielen anderen Dingen, dass in Betrieben keine freien Gewerkschaften existierten, dass wir in unseren Schulen Fahnenappelle, Militärunterricht hatten, keine Schülerzeitungen und keine Klassensprecherinnen, sondern FDJ-Sekretäre. Und ich sage Ihnen: Betriebe und Schulen sind anders in der Freiheit als in der Diktatur. Diese Verhaltensweisen müssen natürlich reflektiert werden. Warum sind wir so angepasst? Warum fällt es uns so schwer, Eigenverantwortung zu übernehmen? Doch nicht, weil die Ostdeutschen charakterschwach sind. Das sind großartige Menschen und darunter gibt es auch ein paar Bekloppte, wie überall auf der Welt. Aber sie haben doch im Grunde genügend geleistet. Nur sie brauchen eine längere Trainingszeit, um dieses eigenverantwortliche Handeln einzuüben, und da hat der Westen einfach einen Trainingsvorsprung, so ist das, aber keinen Charaktervorsprung.
Klein: Sehen Sie denn so etwas 20 Jahre später, dass dieses Training, wie Sie es genannt haben, jetzt nachgeholt wird, sprich also auch eine andere Art von Fokussierung auf die Vergangenheitsaufarbeitung gelingen wird?
Gauck: Das Merkwürdige ist ja, dass wir anders als nach dem Krieg sofort angefangen haben, mit offenen Augen und offenen Akten den Kommunismus zu delegitimieren. Wir wissen alles über ihn, wir kennen die Feinstruktur durch die Stasi-Akten, wir haben ja gelernt von den 68ern. Deshalb haben wir das ja sofort so angefangen mit der Diktatur, eben nicht zu schweigen und einen Betondeckel drauf. Nur das Eigenartige ist jetzt, dass wir eine große Gruppe von Eingeweihten haben und daneben diese Gefühle, die Sie aus der alten Bundesrepublik beschrieben haben, bitte nicht dran rühren, wir wollen es gar nicht so genau wissen. Und wir wissen nicht so genau, wann in der Masse dieser Effekt eintritt, dieses kathartische Erinnern, wo man die eigene Schuld benennt, Trauer zulässt und auch Scham. Insofern warten wir immer auf so eine etwas größere Bewegung als die von einzelnen Politikern und einzelnen Gruppen ausgehende, wirklich in der Tiefe anzukommen, und da könnten die Leute aus der PDS, die wirklich die Demokratie begriffen haben, mit ihren roten Reaktionären in der eigenen Partei mal anfangen, mit denen Tacheles zu reden und sich auch von einigen zu trennen, die da immer noch eine Diktatur verklären und umdeuten.
Klein: Abschließend, Herr Gauck, Sie haben angedeutet: wenn Schuldeingeständnis da ist bei Menschen, die schuldig geworden sind in dieser Situation unter dem System, soll das noch eine Rolle spielen, oder soll das keine Rolle mehr spielen, wie hat sich jemand verhalten unter diesen Bedingungen, die man wirklich keinem Menschen wünscht, nämlich unter Druck eine Entscheidung zu treffen, mit wem arbeite ich zusammen, was gebe ich preis, was ist mir meine eigene Karriere wert? Muss das heute noch zählen, oder sagen wir, das ist eigentlich egal?
Gauck: Nein. Es soll natürlich nicht zählen, ob einer sich angepasst hat, und ich habe ja vorhin schon erzählt, dass die Genossen, wenn sie qualifiziert genug waren, auch weiterarbeiten konnten. Die sind ja nicht rausgeflogen - ich meine die SED-Genossen. Aber Schuld ist eine merkwürdige Sache. Viele Völker denken, man muss sie nicht besprechen und sie verschwindet automatisch. Das ist doch gerade das, was wir Deutsche gelernt haben, dass eine Nation sich nicht verliert, wenn sie zu ihrer Schuld steht, und dass sie ein neues Gesicht bekommt, dass sie auch glaubwürdig wird und nicht nur für die Außenwelt um uns herum, sondern für die eigenen Landsleute. So kann sich eben Distanz zur eigenen Nation dann wandeln auch in Bejahung, aber doch nicht durch Herumdrücken. Deshalb mein Appell: Wir können nicht per Ordre de Mufti sagen, jetzt interessiert uns alles nicht mehr, sondern wir erwarten, dass dieser Prozess, der eingeleitet ist, die Wahrheit zu benennen und auch Schuld zu benennen und nicht nur strafrechtliche Schuld, sondern auch politische Verantwortung und moralische Schuld zu benennen und zu besprechen, weitergeführt wird. Das ist ein heilsamer Prozess und er führt letztendlich zur Befreiung. Jetzt so einen künstlichen Kitt da drüberzumachen und zu sagen, nun seid mal alle schön friedlich, ohne dass die Dinge, die besprochen werden müssen, auch besprochen worden sind, das wird ein fauler Friede und auf den möchte ich nicht bauen und wir haben ihn auch nicht nötig. Wir haben einen anderen Weg eingeschlagen.
Klein: Der frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Bürgerrechtler und Pfarrer Joachim Gauck, heute Morgen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Gauck.
Von Dankbarkeit der ehemaligen DDR kann man nicht erwarten. Ich hatte die Hoffnung gehabt, dass die Schwarz-Gelb-Regierung die Solizuschl228;ge abschaffen würde zur Steuersenkung. Nein, von wegen. Die menschliche Empfindung für die Ungerechtigkeit ist viel st228;rker ausgepr228;gt als das Gegenteil. Und Menschen haben manchmal sehr kurzes Ged228;chtnis.